Anthologie

Anthologie (griechisch: Blütenlese), auch Analekten und Florilegium, Sammlung ausgewählter, ursprünglich getrennt publizierter literarischer Texte (Gedichte, Aphorismen, Epigramme, Sprüche, Erzählungen etc.), zumeist von mehreren Autoren. Eine Sonderform der Anthologie ist das Lesebuch.

Der Begriff der Anthologie in seiner heutigen Bedeutung hat sich im 18. Jahrhundert allgemein durchgesetzt. Sammlungen von Epigrammen wurden seit der Antike zusammengestellt. Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung dieser Form kommt dem so genannten Kranz des Philosophen und Dichters Meleagros von Gadera zu, der um 70 v. Chr. entstand. Im Kranz fasste Meleagros eigene Epigramme und 46 Epigramme älterer griechischer Dichter zusammen. Im 18. Jahrhundert kam eine erweiterte Fassung des Kranzes unter dem Titel Anthologia Graeca heraus. Ausgehend von den Anthologien des Meleagros von Gadera und des Philippos von Saloniki (um 40 n. Chr.) sowie von dem so genannten Kyklos des Agathias (um 560 n. Chr.) schuf der byzantinische Theologe Konstantinos Kephalas um 900 n. Chr. in Byzanz eine nach Kategorien geordnete Anthologie, die vielfach erweitert wurde. Nach der Heidelberger Fassung Codex Palatinus (lateinisch für Pfälzer Handschrift) ist sie unter dem Namen Anthologia Palatina bekannt. Ebenfalls in Byzanz entstand die Anthologia Planudea des Humanisten Maximos Planudes (um 1299). 1573 gab der französische Altphilologe Joseph Justus Scaliger in Anlehnung an Anthologien griechischer Texte eine Sammlung lateinischer Gedichte der Antike heraus. Er setzte damit eine Tradition fort, die im Spätmittelalter mit der Sammlung lateinischer Alltagslyrik (etwa mit der Carmina Burana) begonnen hatte. Im Humanismus kam der Anthologie vermehrt didaktische Funktion zu. So veröffentlichte Erasmus von Rotterdam 1500 eine große Sentenzensammlung unter dem Titel Adagiorum Collectanea. Die 1695 bis 1727 herausgegebene siebenbändige Sammlung Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte des Benjamin Neukirch begründete die deutsche Traditionslinie nationalsprachlicher Anthologien. Friedrich Schiller entlieh den Begriff für seine Gedichtsammlung Anthologie auf das Jahr 1782, ein Höhepunkt und formaler Abschluss der Lyrik des Sturm und Drang. Um den schwarzen Humor machte sich der Franzose André Breton mit seiner Anthologie de l’Humor Noir (1937, Anthologie des schwarzen Humors), um die phantastische Literatur der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (Antología de la literatura fantástica, 1941, Anthologie der phantastischen Literatur) und um die deutsche Nachkriegsliteratur Walter Höllerer mit Transit. Lyrikbuch zur Jahrhundertmitte (1956) verdient. Der internationalen Poesie von 1940 bis 1990 widmete sich Harald Hartungs Luftfracht (1991).

Nicht selten spiegeln Anthologien den literarischen Zeitgeschmack einer Epoche oder Strömung wider. Neben ihrem literarischen Wert sind sie deshalb auch als zeit- und literaturgeschichtliche Dokumente wichtig. Dies gilt etwa für die von Achim von Arnim und Clemens Brentano im Zuge der Neuentdeckung von Volksdichtung während der Romantik herausgegebenen Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806-1808), für Kurt Pinthus’ Anthologie von Gedichten des Expressionismus, Menschheitsdämmerung (1920), und für Hans Magnus Enzensbergers Museum der Modernen Poesie (1960). Als offizielles Geschenkwerk des Organisationskomitees der Olympischen Spiele in München wurde 1972 mit Deutsches Mosaik. Ein Lesebuch für Zeitgenossen eine weitere bemerkenswerte Anthologie publiziert; es sollte, so Gustav Heinemann in seinem Vorwort, „den ausländischen Besuchern der Olympischen Spiele helfen, die geistige Situation Deutschlands zu verstehen". Weitere herausragende Zusammenstellungen der deutschen Nachkriegszeit sind Geistige Situation der Zeit (2 Bde., 1979) von Jürgen Habermas sowie Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute (1979) von Klaus Wagenbach, Winfried Stephan und Michael Krüger (Nachwort: Peter Rühmkorf). Eine äußerst bibliophile Anthologie, die im Schriftbild mit den Möglichkeiten visueller Dichtung und optischer Verfremdung spielt, brachte Enzensberger unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr 1985 mit Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen in der von ihm edierten Anderen Bibliothek heraus.


Verfasst von:
Thomas Köster

 

Antike

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EINLEITUNG

Antike (von lateinisch antiquus: alt), geschichtliche und kunstgeschichtliche Epochenbezeichnung für das griechisch-römische Altertum in der Zeitspanne vom Beginn des griechischen Mittelalters (um 1100 v. Chr.) bis zum Untergang des Römischen Kaiserreichs (476) bzw. der Schließung der platonischen Akademie in Athen durch Kaiser Justinian I. (529). Oft wird mit dem Begriff der Antike die Vorstellung einer kulturell führenden Stellung des Abendlandes verbunden. Tatsächlich wurden im Vorderen Orient kulturelle Höchstleistungen erbracht, lange bevor in Griechenland die ersten Anfänge in Kunst, Kultur und Wissenschaft unternommen wurden.

2

 

EPOCHEN

Während die etwa Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. entstandenen, Homer zugeschriebenen Epen Ilias und Odyssee noch dem Archaicum der griechischen Antike zugerechnet werden, gilt die „klassische" Periode im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. als kulturelle und politische Blütezeit der Antike. In der stadtstaatlichen Gesellschaftsform der Polis von Sparta und Athen formulierten die herrschenden Vollbürger ihre Interessen (Kleisthenes, Perikles); in Philosophie (Platon, Aristoteles, Isokrates), Kunst (Phidias), Literatur (Pindar, Aischylos, Sophokles, Euripides), Geschichtsschreibung (Herodot, Thukydides) und Wissenschaft (Hippokrates, Euklid) entstanden herausragende Leistungen, die das Weltbild der wissenschaftlichen und künstlerischen Gemeinde vor der Verbreitung des Christentums prägten.

In der mit Alexander dem Großen im 4. Jahrhundert beginnenden und bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. reichenden Phase des Hellenismus breitete sich die griechische Kultur auf den gesamten Mittelmeerraum aus, verschmolz mit den Kulturen der unterworfenen Völker und öffnete sich orientalischen Einflüssen. Das seit Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. zur Weltmacht aufstrebende Rom blieb dem hellenischen Vorbild weitgehend verhaftet. Als eigene, bis heute nachwirkende Schöpfung bildete es das römische Recht heraus.

Während das Christentum des Westens in der Spätantike einzelne Elemente der griechischen Philosophie für die Theologie fruchtbar machte (Augustinus), bildete es im Byzantinischen Reich auf der Basis der Antike und des orientalischen Erbes eine neue Kultur heraus.

In ökonomischer Hinsicht war die Antike durch eine städtische Kultur, ein weitgespanntes internationales Handelssystem, Geldwirtschaft und Sklaverei gekennzeichnet. Das christlich-feudale Europa blieb zunächst in vielen Aspekten hinter dieser Entwicklungsstufe zurück.

Im Bereich der Religion spannt sich der Bogen von der griechischen Mythologie mit ihrem spezifischen Anthropomorphismus bis zu den verschiedenen Kulten des Orients, zu denen anfangs auch das Christentum zählte, bis es zur Staatsreligion des Römischen Reiches avancierte.

3

 

NACHWIRKUNGEN

In der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte zeigen sich bedeutende Nachwirkungen der Antike im lateinischen Mittelalter u. a. in der Scholastik (Aristoteles), in der karolingischen Renaissance (siehe romanische Kunst und Architektur), später vor allem im Humanismus und in der Renaissance. Die Rezeption antiker Autoren im christlich geprägten Abendland war allerdings oft nur durch Emanzipation vom Christentum möglich. Aus christlicher Sicht waren die antiken Werke heidnische Werke, die auf Grund dieser Etikettierung verachtet und vernichtet wurden bzw. in Vergessenheit gerieten. Nur durch die Bemühungen muslimischer Gelehrter sind viele antike Werke erhalten geblieben und auch für Europäer wieder zugänglich geworden.

In der Stilepoche des Klassizismus orientierte sich die bildende Kunst an Vorbildern und Formen der Antike: Gerade die pompös-imperiale Architektur eignete sich zu allen Zeiten zur Selbstdarstellung von Herrschern und Staaten. In der geistesgeschichtlichen Ära der Klassik im 17. und 18. Jahrhundert entstanden Meisterwerke der Literatur (u. a. Corneille, Molière, Schiller, Goethe) und Musik (u. a. Gluck, Mozart, Beethoven). Die humanistische Bildung und Philosophie (Nietzsche) des 19. Jahrhunderts bezog sich positiv auf antike Autoren und damit oft polemisch auf die Gegenwart. Gerade die jüngere deutsche Vergangenheit kennt die Vereinnahmung der Antike für zeitgenössische Interessen, so etwa wenn an den Schulen die Taten Spartas und Roms auf dem Gebiet der militärischen Gewalt verherrlicht wurden.

Die Beschäftigung mit der Antike hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rapide an Bedeutung verloren, wird aber von Disziplinen wie der Altphilologie, Archäologie und Alten Geschichte weiterhin betrieben.


Verfasst von:
Wieland Eschenhagen

Artussage

Artussage, seit dem Mittelalter einsetzende Legendenbildung um die Gestalt des Königs der keltischen Briten, Artus.

Die Artussage wurzelt wohl in der keltischen Mythologie und wurde in späteren Überlieferungen immer wieder erweitert. Deshalb ist heute nicht mehr auszumachen, ob es sich bei Artus um eine historische Person gehandelt hat. Der früheste erhaltene Hinweis auf König Artus findet sich in dem walisischen Gedicht Y Gododdin (um 600). Weitere Zeugnisse liefern lateinische Quellen aus dem 9. und 10. Jahrhundert sowie das walisische Mabinogion (um 1100). Hier finden erstmals auch Artus’ Frau Guinevere und einige der Ritter seiner Tafelrunde Erwähnung. Die erste längere Artuserzählung verzeichnet die Historia regum Britanniae (um 1139, Geschichte der Könige Britanniens) des englischen Dichters Geoffrey von Monmouth. Dort wird Artus als Sohn des Königs Uther Pendragon vorgestellt, der, vom Zauberer Merlin erzogen, sein Herrschaftsgebiet auf das europäische Festland ausdehnt. Während eines Feldzuges nach Rom nimmt sein Neffe Mordred ihm Frau und Land. Die Historia erwähnt auch die geheimnisvolle Insel Avalon, ein mythisches Zwischenreich, in das sich Artus nach seiner tödlichen Verwundung im Duell mit Mordred zurückzieht, um zur Rettung des Landes dereinst ruhmreich zurückzukehren.

Alle späteren Bearbeitungen basieren auf der Dichtung Geoffreys, so etwa die erste Version der Artuslegende in frühmittelenglischer Umgangssprache, die in Layamons zwischen 1185 und 1216 entstandenem Versepos Brut nahezu ein Drittel einnimmt. Erstmals erscheint hier das magische Schwert Excalibur, das, in einem Felsen steckend, bei seiner glorreichen Rückkehr nur Artus herausziehen kann.

Durch Layamons Epos und die französische Übersetzung seines Vorläufers, des anglonormannischen Roman de Brut (1155) von Wace, verbreitete sich die Artuslegende auch auf dem Festland. Bereits im 12. Jahrhundert waren Artusromanzen bis nach Italien vorgedrungen. Diese idealisierten vor allem die höfischen Ideale der Ritterlichkeit und hohen Liebe (Minne). Auch stellten sie Artus’ Gefolgschaft, die Ritter der Tafelrunde (Gawain, Iwein, Erec, Lanzelot, Galahad u. a.), ins Zentrum der Betrachtung.

Neben Robert de Boron verfasste Chrétien de Troyes den bedeutendsten altfranzösischen Artusroman des Mittelalters. Hier ringt Artus’ Lieblingsritter Lanzelot um die Liebe Guineveres. Auch Parzivals Suche nach dem Gral ist hinzuerfunden. Das Werk Chrétiens übte großen Einfluss auf die zentralen mittelhochdeutschen Epen – den Erec und den Iwein Hartmann von Aues (12. Jahrhundert) sowie den Parzival Wolfram von Eschenbachs (um 1210) – aus. Im frühen 13. Jahrhundert kam die aus einer anderen keltischen Überlieferung stammende Liebesgeschichte um Tristan und Isolde zum mittelalterlichen Artuskomplex hinzu.

Im englischsprachigen Raum des 13. und 14. Jahrhunderts stellte die Artusdichtung immer wieder die Heldentaten einzelner Ritter (Parzival und Galahad, vor allem aber Gawain) in den Mittelpunkt. Das anonyme Werk Sir Gawain and the Green Knight (um 1370) ist ein gelungenes Beispiel dieser Tradition. Von Sir Thomas Malory stammt die 21 Bücher umfassende Prosasammlung Le Morte Darthur (gedruckt 1485, Der Tod Arthurs). Malorys Werk wiederum diente Alfred Tennyson als Grundlage für seine Idylls of the King (1859-1885, Königs-Idyllen), einer Allegorie auf die viktorianische Gesellschaft.

Bis in die Moderne hinein variierten Dichter den Stoff der Artussage. Zu diesen Varianten gehört etwa Edmund Spensers pathetisches Versepos The Faerie Queene (1590-1596, Fünf Gesänge der Feenkönigin) und Mark Twains Fortschrittssatire A Connecticut Yankee at King Arthur’s Court (1880, Ein Yankee am Hofe des Königs Artus). Wie die späteren Artusromane von Gillian Brandshaw, Sanders Anne Laubenthal und Marion Zimmer Bradleys gehört auch das vierbändige Werk The Once and Future King (1939-1958, Der König auf Camelot), des Engländers T. H. White zur Fantasyliteratur. 1981 wurde Tankred Dorsts Theaterstück Merlin oder das wüste Land im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt. Eine musikalische Bearbeitung des Artusstoffes lieferte Richard Wagner mit Parsifal (1882). 1960 entstand das Broadwaymusical Camelot von Alan Jay Lerner und Frederick Loewe, 1975 kam The Myths and Legends of King Arthur and the Knights of the Round Table von Rick Wakeman heraus.

 

Ästhetik

1

 

EINLEITUNG

Ästhetik, Philosophie der Kunst, (griechisch aistánesthai: wahrnehmen bzw. aisthesis: Wahrnehmung, Empfindung), philosophische Disziplin, die sich mit dem Schönen und seiner Wahrnehmung sowie mit der Kunst beschäftigt.

Als Disziplin der Philosophie, die sich dem Schönen und der Kunst zuwendet, wurde die Ästhetik in der Mitte des 18. Jahrhunderts begründet. Der Begriff wurde von Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner 1750 veröffentlichten Aesthetica eingeführt. Nach ihrem Gegenstandsbereich reicht die Geschichte der Ästhetik aber bis in die griechische Antike zurück. Insofern ist es auch üblich, von einer Ästhetik der Antike oder des Mittelalters zu sprechen.

Eines der Grundthemen ästhetisch-philosophischer Reflexion ist die Frage nach möglichen Kriterien zur Beurteilung des Schönen und der Kunst sowie nach der intersubjektiven Verbindlichkeit dieser Kriterien. Weiterhin fragt die Ästhetik nach der Differenz ästhetischer Urteile zu moralisch-praktischen und theoretischen Urteilen. Sie rekonstruiert die Art und Weise, in der Kunstwerke die Welt erschließen, und hebt sie von anderen Weisen der Welterschließung wie Mythos, Religion und Wissenschaften ab. Darüber hinaus rekonstruiert die Ästhetik gesellschaftlich-geschichtliche und individuelle Bedingungen der Produktion von Kunstwerken, ihre strukturalen Merkmale sowie die Bedingungen ihrer Rezeption. Sie erörtert das Verhältnis der verschiedenen Kunstgattungen zueinander, das Verhältnis des einzelnen Werks zum Begriff der Kunst sowie die historischen Transformationen des Kunstbegriffs.

2

 

GESCHICHTE

2.1

 

Antike

In der Antike wurde die Frage nach der Kunst zunächst im Rahmen der Poetik und der Rhetorik diskutiert. Beide Disziplinen formulieren Kriterien zur Beurteilung der Schönheit des sprachlichen Ausdrucks und geben zugleich Anweisungen zum Abfassen gelungener Dichtungen und Reden. Die ersten dezidiert philosophischen Theorien des Schönen und der Kunst stammen von Platon, der Schönheit und Kunst als voneinander unabhängige Phänomene behandelt. Der neuzeitliche Begriff des Kunstschönen war ihm fremd. Als Paradigma der Schönheit gilt Platon in erster Linie die menschliche Gestalt. Während er der Schönheit in seiner Philosophie einen wichtigen Stellenwert einräumt, verurteilt er die Kunst. Insbesondere die nachahmende Kunst (Malerei und Plastik) kritisiert Platon in seiner Politeia (Der Staat) als „Schein" und fordert dazu auf, alle Künstler aus dem in dieser Schrift entworfenen utopischen Idealstaat zu verbannen.

Ausgehend von seiner Ideenlehre, die postuliert, dass allein der Welt archetypischer Ideen Realität zukomme, können Kunstwerke nur als Abbilder einer sinnlich wahrnehmbaren Welt verstanden werden, die selbst schon als Abbild der überweltlichen Ideen aufgefasst wird. Als „Abbild des Abbilds" wird die Kunst somit doppelt unwirklich. Während Platon die nachahmende Kunst verurteilt, lobt er andererseits die an der menschlichen Gestalt aufscheinende Schönheit. Das Schöne gilt ihm als Abglanz der Ideen, als Stufe auf der Treppe, über die sich der Schauende zu den Ideen zu erheben vermag. Schönheit hat für Platon insofern einen medialen Charakter, sie wird als „geburtshelfende Göttin" in den Dienst der Ideen des Wahren und Guten gestellt, die sich nicht unmittelbar, sondern nur ästhetisch gebrochen anschauen lassen. Wie in der gesamten antiken Philosophie bilden die Ideen des Schönen, Wahren und Guten bei Platon einen engen Verweisungszusammenhang: Was wahr und gut ist, gilt zugleich als schön.

Bei Platons Schüler Aristoteles finden sich nur wenige Ausführungen zur Schönheit. In seiner Metaphysik definiert er das Schöne als Zusammenspiel von Ordnung, Gleichmaß und Begrenztheit. Für die Theorie der Kunst wird der Einfluss des Aristoteles dagegen bahnbrechend. Insbesondere die drei Leitkategorien der Aristotelischen Poetik – Poiesis, Mimesis und Katharsis – prägen die kunstphilosophischen Diskussionen bis heute. Unter dem Schlagwort der Poiesis thematisiert Aristoteles die Schöpfung des Künstlers, die Mimesis steht für die Darstellungsleistung des Kunstwerks, im Zusammenhang mit der Katharsis schließlich beschreibt Aristoteles die Wirkungen der Kunstwerke auf ihre Rezipienten. Die Poetik des Aristoteles stellt verbindliche Regeln für das Abfassen von Tragödien auf; sie artikuliert die bis in die Dramentheorie des Klassizismus (17. bis 18. Jahhundert) hinein dominierende Lehre von den drei Einheiten (Zeit, Ort und Handlung) des Dramas. Für die Wirkungsästhetik und -psychologie wurde die Poetik durch die Forderung bedeutend, dass die Tragödie Gefühle des Mitleids und der Furcht erwecken soll, um das Publikum von diesen Affekten zu befreien und innerlich zu reinigen (Katharsis). Für die Produktionsästhetik wurde der Gedanke des Aristoteles wegweisend, dass der Künstler nicht die Natur als Produkt (natura naturata), sondern die Natur als schöpferische Kraft (natura naturans) nachahme (Mimesis).

Plotin, der wichtigste Vertreter des Neuplatonismus, misst der Schönheit eine noch größere Bedeutung bei als Platon. In seinem Denken vereint sich die platonische Vorstellung einer höchsten Idee mit dem christlichen Motiv eines transzendenten Schöpfergottes. So wie die Sonne ein ständiges Abstrahlen von Wärme und Licht sei, so geht auch nach Plotins Auffassung Gott in seiner Allmächtigkeit permanent aus sich heraus, entäußert sich in eine Kette absteigender Emanationen in die Welt, die er als schönen und geordneten Kosmos deutet. Gegenläufig zu dieser abwärts gerichteten Bewegung einer Selbstentäußerung Gottes strebt der Mensch nach der Henosis, der Vereinigung mit dem „Göttlichen Einen". Über Erfahrungen der Kontemplation von Schönheit nähert sich der Mensch diesem „Göttlichen Einen" an. In der ästhetischen Erfahrung, die der mystischen Erfahrung nahekommt, erhebe sich der Mensch über sich selbst.

2.2

 

Mittelalter und Renaissance

Im Mittelalter spielte die Theorie des Schönen innerhalb der Philosophie nur eine untergeordnete Rolle. Die irdische Welt des Materiellen und der sinnlichen Erscheinungen wurde gegenüber einer jenseitigen, göttlichen Welt radikal abgewertet. Insofern fungieren auch die Kunstwerke lediglich als sekundäre Illustrationen von Glaubensinhalten, die „an sich" bestehen und insofern nicht notwendig auf künstlerische Darstellungen angewiesen sind. Gleichwohl wurden auch in der mittelalterlichen Philosophie, insbesondere im Umkreis der Mystik, Theorien des Schönen skizziert. So thematisieren etwa Pseudo-Dionysios Aeropagita (5. Jahrhundert) und Johannes Scotus Eriugena (etwa 810 bis 877) die göttliche Schönheit als einen Lichtglanz, der sich über alles Seiende ergießt und von dem aus sich dem Menschen die gesamte Welt überhaupt erst aufhellt.

Ähnlich wie die Antike unterscheidet auch das Mittelalter noch nicht klar zwischen Kunst im neuzeitlichen Sinn, handwerklicher Kunstfertigkeit und theoretischen Wissenschaften. Die sieben freien Künste (septem artes liberales), die den Bildungskanon des freien Mannes im Mittelalter ausmachen, umfassen Grammatik, Rhetorik und Dialektik (das Trivium der drei Wortkünste) sowie Musik, Astronomie, Arithmetik und Geometrie (das Quadrivium der vier wortlosen Künste).

Die Renaissance zeichnet sich als kulturelle Epoche durch eine Wiederentdeckung der Antike sowie eine Hinwendung zur Natur, zum Menschen und zur Sprache aus. Die Hinwendung zur Natur und zum Menschen spiegelt sich vor allem in der Malerei, die sich nach und nach von ihrer Funktion der Vergegenwärtigung religiöser Gehalte emanzipiert. Die Ästhetik der Renaissance findet ihren gedanklichen Ausdruck in den literatur- und sprachtheoretischen Traktaten der italienischen Renaissancehumanisten, die an das umfassende Bildungsideal der antiken Rhetoriker anknüpften und zugleich die italienische Sprache als neue Literatursprache entdeckten. Darüber hinaus wurde die Ästhetik in dieser Zeit durch theoretische Schriften von Künstlern wie dem Architekten Leon Battista Alberti sowie den Malern Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer befördert.

Von den Künstlerphilosophen der Renaissance wird Schönheit nicht mehr als ontologischer Ausdruck einer den Kosmos ordnenden Macht Gottes gedacht, sondern von ihrer Wirkung aufs Subjekt her verstanden. In diesen Zusammenhang fällt auch die Entdeckung der Zentralperspektive durch die Maler der Renaissance. Diese entwickelten einen säkularisierten Begriff des Schönen; sie befreiten das Bild aus kultisch-religiösen Zusammenhängen und verwandelten es zum Ausdruck einer reinen Sichtbarkeit. Die Kunst begriff sich zunehmend als autonom. Die schönen Künste trennten sich von den mechanischen Künsten, den Wissenschaften und der Religion. In den Blickpunkt der Renaissanceästhetik rückte auch die wichtige Rolle der künstlerischen Einbildungskraft. Marsilio Ficino verwies in diesem Zusammenhang auf die Gottesebenbildlichkeit des Künstlers, den er als „artifex divinus", als göttlichen Schöpfer beschreibt, der mittels seiner Phantasie neue Welten zu erschaffen in der Lage ist.

Die ästhetische Diskussion des 17. Jahrhunderts wurde wesentlich durch die Querelle des anciens et des modernes bestimmt, in deren Rahmen das Verhältnis der neuen Literatur zu den Klassikern der griechischen Antike erörtert wurde. Während die Anciens den absoluten Vorbildcharakter der antiken Literatur behaupteten und in normativen Regelpoetiken zu verankern suchten, plädierten die Modernes für die Eigenständigkeit der neuzeitlichen Literatur.

2.3

 

18. und 19. Jahrhundert

2.3.1

 

Baumgarten

Mit der Einführung ihres Begriffs in die philosophische Tradition durch Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen Aesthetica 1750 erschien, wurde die Ästhetik zu einer allgemeinen Theorie der Sinne und der Wahrnehmung, die auch eine Lehre von der Wahrnehmung des Schönen und der Kunst beinhaltete. Die Verlagerung der Lehre vom Schönen, die bisher der Ontologie vorbehalten war, auf das Gebiet einer generellen Wahrnehmungslehre bereitete die Autonomie der ästhetischen Geltung gegenüber moralischen und theoretischen Geltungsansprüchen vor, wie sie später von Kant proklamiert wurde. Gleichzeitig kündigte sich in der Aesthetica bereits die „kopernikanische Wende" auf das Subjekt an, die auf dem Feld der Erkenntnistheorie ebenfalls später von Kant vollzogen wurde. Nicht mehr das Schöne als objektive Eigenschaft von Dingen stand von nun am im Mittelpunkt der ästhetischen Theorie, sondern das die Schönheit von Gegenständen empfindende und beurteilende Subjekt.

Im Vergleich zur begrifflichen Erkenntnis des Wahren gilt die Wahrnehmung des Schönen bei Baumgarten zunächst als niederes Erkenntnisvermögen, als „gnoseologia inferior" und als „logica facultatis cognoscitivae inferioris". Das Ästhetische erhebt hier erstmals den Anspruch auf eine der Erkenntnis analoge Geltung. Zugleich formulierte die Ästhetik aber auch eine Kritik am einseitig an den Methoden der Naturwissenschaften ausgerichteten Vernunftbegriff der neuzeitlichen durch Francis Bacon und René Descartes begründeten Philosophie. Gegen den Wissenschaftspurismus der empiristischen und rationalistischen Philosophie klagte Baumgarten Sinnlichkeit und Phantasie als Konstituenten eines weiter gefassten Vernunftbegriffs ein. Gleichzeitig wendet sich die Ästhetik bei Baumgarten der Erkenntnis des Individuellen zu, das von der rationalistischen Philosophie vernachlässigt wurde. Die Ästhetik beerbte in dieser Hinsicht die Tradition der antiken Rhetorik, deren zentralen Begriffe von Baumgarten philosophisch transformiert werden.

2.3.2

 

Kant

Im Mittelpunkt der ästhetischen Theorie Immanuel Kants, die in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) vorgetragen wird, steht eine Analyse des ästhetischen Geschmacks. Für Kant werden Phänomene dann als schön empfunden, wenn sie zweckfrei sind und ein Lustgefühl erwecken, das unabhängig ist von einem bloß sinnlichen Genießen. Dementsprechend spricht Kant vom „interesselosen Wohlgefallen" als Kriterium für eine ästhetische Erfahrung, die sich von der sinnlich angenehmen Erfahrung unterscheidet. In der Lehre von der „Transzendentalen Ästhetik" innerhalb der Kantschen Kritik der reinen Vernunft (1781) wird das Substantiv „Ästhetik" zunächst nur im Sinne einer allgemeinen Wahrnehmungstheorie verwendet und hat keinen Bezug zu den Begriffen Schönheit und Kunst. Als Lehre von der räumlichen und zeitlichen Verfasstheit der Sphäre des Sinnlichen kommt der Transzendentalen Ästhetik in Kants System ein unverzichtbarer, trotzdem den nicht an Raum und Zeit gebundenen Verstandeskategorien und Vernunftprinzipien untergeordneter Stellenwert zu. Eine mögliche Philosophie des Schönen belegt Kant in der Kritik der reinen Vernunft noch mit dem Verdacht der Subjektivität und des Irrationalismus. Seinen Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeit einer „kritischen Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien" überwand Kant erst in seiner Kritik der Urteilskraft. Das Vermögen der Beurteilung des Schönen, die ästhetische Urteilskraft, rückt hier als vermittelndes, aber gleichberechtigtes Vermögen zwischen den theoretischen Verstand und die praktische Vernunft. Damit wurde die Autonomie des Schönen in die Welt gesetzt, obgleich das Schöne noch, dem transzendentalphilosophischen Gesamtkonzept der Kantschen Philosophie folgend, an ein menschliches Beurteilungsvermögen gebunden bleibt. Kants Kritik der Urteilskraft ist primär eine Wahrnehmungs- (oder Urteils-)Theorie, keine Theorie der Kunst. Die Beispiele für Schönheit entnahm Kant im Wesentlichen dem Bereich des Naturschönen.

In der „Analytik des Schönen" innerhalb seiner Kritik der Urteilskraft beschreibt Kant die Erfahrung des Schönen als freies Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand. Während in Erkenntnisurteilen ein singuläres Sinnesdatum unter einen allgemeinen Verstandesbegriff subsumiert würde, käme es im ästhetischen Urteil zu einem freien und unabschließbaren Spiel zwischen Sinnlichkeit und Verstand; dieses freie Spiel wird von Kant auch als unbestimmte „Erkenntnis überhaupt" bezeichnet, die sich von der bestimmten Erkenntnis des Verstandes abhebt. Nach dieser Konzeption mündet ästhetische Erfahrung nicht in einen bestimmten Sinn, sondern stellt den Prozess der Sinnbildung auf Dauer. Sie erzeugt den Eindruck einer allgemeinen Zweckmäßigkeit des als schön empfundenen Gegenstands, der sich doch keinem singulären Zweck unterordnen lässt. Das spezifische Interesse am schönen Gegenstand ist insofern interesslos, was den schönen Gegenstand zugleich zum Symbol des sittlich Guten macht. Auch Sittlichkeit zeichnet sich durch ein Absehen von partikulären Interessen aus. Kant definiert die Schönheit zusammenfassend als „das, was ohne Begriff allgemein gefällt" und als „Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird". Durch ihre Verwiesenheit auf die menschlichen Erkenntnisvermögen sind ästhetische Geschmacksurteile keine rein subjektiven Urteile, sondern allgemeinverbindlich.

In seiner „Analytik des Erhabenen", dem zweiten zentralen Lehrstück innerhalb der Kritik der Urteilskraft, schloss sich Kant an die englische Ästhetik des 18. Jahrhunderts an, in der das Erhabene durch die ambivalente Empfindung eines „delightful horrour" und einer „terrible joy" (John Dennis) beschrieben wurde. Die in dieser Empfindung implizierte Gleichzeitigkeit von Zerrüttung und Festigung der Ich-Identität gilt auch bei Kant als das zentrale Attribut des Erhabenen. Er charakterisiert das Erhabene zunächst in Abgrenzung vom Schönen dadurch, dass es an formlosen und unbegrenzten Gegenständen zu finden sei. Während das Wohlgefallen am Schönen mit der Qualität oder Form einer Empfindung verbunden sei, ergibt sich das Wohlgefallen am Erhabenen aus der Quantität: „Erhaben nennen wir, was schlechthin groß ist." Als Beispiele für „schlechthin Großes" führt Kant Naturgegenstände wie Gewitter, schroffe Berge, hohe Wasserfälle, Vulkane etc. an.

Diese Naturgegenstände sind nicht selbst erhaben. Sie sind an sich „grässlich", bieten aber Anlass für erhabene Empfindungen. Vor den zitierten Naturphänomenen scheitert unsere Einbildungskraft, unser Vermögen, „das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild [zu] bringen". Wir empfinden diese Phänomene als schlechthin groß. Für die Idee des „schlechthin Großen" müssen wir, da unsere Einbildungskraft sie nicht anschauen bzw. vorstellen kann, einen Maßstab haben, der selbst nicht sinnlich ist. „Das gegebene Unendliche auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüte erfordert." Dieses Vermögen sei die praktische Vernunft, das moralische Gesetz in uns. Kants Ästhetik des Erhabenen regte in der Philosophie des späten 20. Jahrhunderts eine neue Diskussion um das Erhabene an. Insbesondere Jean-François Lyotard nutzte den Kantschen Begriff des Erhabenen zur Interpretation der Avantgardekunst, z. B. der Bilder des abstrakten Expressionisten Barnett Newmann.

2.3.3

 

Schiller

Friedrich Schiller war in seinen ästhetischen Schriften stark von Kant beeinflusst. Er griff die Kantsche Idee eines „freien Spiels" der Erkenntnisvermögen als Grundlage ästhetischer Erfahrungen auf und erweiterte sie in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) zur Utopie eines ästhetischen Staates. Der anthropologisch erweiterte Spielbegriff versöhnt für Schiller zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Neigung und Pflicht sowie zwischen dem passiven sinnlichen Trieb und dem aktiven Formtrieb. Eine ästhetische Erziehung der Menschen zum Spiel soll alle Widersprüche der modernen Welt kompensieren: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Schiller löst die Kantschen Konzepte der Schönheit und der Form von den menschlichen Beurteilungsvermögen und spricht sie den Kunstwerken selbst zu. Die Schönheit kehrt vom ästhetisch wahrnehmenden Subjekt zurück aufs ästhetisch wahrgenommene Objekt. Die bloß symbolische Beziehung zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen bei Kant wird bei Schiller wieder zu einer substantiellen Beziehung.

2.3.4

 

Schelling

Friedrich Wilhelm Schelling definiert in seinem System des Transzendentalen Idealismus (1800) die ursprüngliche Identität einer bewussten Tätigkeit der Weltwahrnehmung und einer bewusstlosen Tätigkeit der Weltkonstitution als das Absolute, als den letzten Grund der Welt. Diese absolute Identität kann selbst nicht bewusst gemacht, d. h. diskursiv eingeholt werden. Der Philosophie bleibt der Zugang zum Absoluten verwehrt. Erst das Kunstwerk als Produkt der ästhetischen Tätigkeit, die zugleich bewusst und unbewusst ist, vermag dem im Bewusstsein befangenen Philosophen das transdiskursive Absolutum zu symbolisieren. Kunst gewährleistet insofern als „das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie" deren Zugriff aufs Absolute. Wie Schiller knüpft auch der frühe Schelling an die Kunst eine geschichtsphilosophische Hoffnung auf Versöhnung, wenn er davon träumt, „dass die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren." In Schellings Vorlesungen zur Philosophie der Kunst (erstmals vorgetragen im Wintersemester 1802/03; veröffentlicht posthum 1859) verliert die Kunst ihr Privileg des einzigen Zugangs zum Absolutum wieder an die Philosophie.

2.3.5

 

Die deutsche Frühromantik

Das Neue am frühromantischen Zugang zur Kunst wird deutlich, wenn man ihn neben die ungefähr zeitgleich entstandene Ästhetik Schellings stellt. Das Wesen der Kunstwerke liegt für die Jenenser Frühromantiker Novalis, Friedrich Schlegel und August Wilhelm Schlegel in ihrer Erschließungfunktion. Diese erschöpft sich nicht wie bei Schelling in der Repräsentation eines transreflexiven Absolutums. Das Verhältnis des Kunstwerks zur Welt wird von den Frühromantikern vielmehr als Ineinander von Nachbildung, Subversion und Konstitution der Welt gedeutet. Aus der Sicht der Romantik erschließen Kunstwerke kein jenseitiges Transzendentum, sondern eine als immanent begriffene Welt. Im Moment der Erschließung transzendieren Kunstwerke diese immanente Welt allerdings von innen, indem sie sie in ihrer vorgängigen Erschlossenheit erschüttern und in ein unendliches, offenes Werden überführen. Diese Erschütterung der Statik unserer Weltbilder wird aus der Sicht der Romantiker durch die Konfrontation einer Sicht auf die Welt mit dem ihr korrespondierenden, vorreflexiven Modus der Sichtbarkeit erreicht. Kunstwerke transformieren unser Vorverständnis von Welt, indem sie, wie Friedrich Schlegel schreibt, mittels einer „künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung […] in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen".

Auch für Clemens Brentano liegt das Wesen des romantischen Kunstwerks darin, dass es „seinen Gegenstand" nicht „bloß darstellt", ihn „nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung selbst noch ein Kolorit giebt", wodurch „die Gestalt der Darstellung selbst ein Kunstwerk" wird. Durch diese Inversion zwischen Darstellung und Dargestelltem eröffnen Kunstwerke außeralltägliche, neue Sichtweisen. Das Kant’sche Konzept einer Transzendentalphilosophie kann von Schlegel insofern um das Konzept einer „Transzendentalpoesie" ergänzt werden. Kunst leistet im Selbstverständnis der Romantiker eine fundamentale Welterschließung. Die Romantik, die sich generell um eine unverkürzte Erfahrung des Fremden in seiner Fremdheit bemüht, erweitert den Begriff der Kunst über das Schöne hinaus um das Interessante, Pikante, Abenteuerliche, Schockierende, Unheimliche und Neue.

2.3.6

 

Hegel

In der Kunstphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels wird deren Titel Vorlesungen über Ästhetik (1835) zum Anachronismus und von Hegel selbst als solcher bezeichnet: „Die Vorlesungen sind der Ästhetik gewidmet; ihr Gegenstand ist […] die schöne Kunst. Für diesen Gegenstand freilich ist der Name Ästhetik eigentlich nicht ganz passend, denn Ästhetik bezeichnet genauer die Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens […]. Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist […] Philosophie der schönen Kunst." Die Kunst gilt Hegel neben der Religion und der Philosophie als Gestalt des absoluten Geistes. Geist steht in Hegels Denken für das kulturelle Medium aller menschlichen Weltbezüge; als absoluten Geist begreift er diejenigen kulturellen Gestalten, in denen sich Kultur selbst thematisiert: In der Kunst wird sich der Geist selbst anschaulich, in der Religion stellt er sich selbst vor, in der Philosophie begreift er sich. Schönheit definiert Hegel als „sinnliches Scheinen der Idee" und bindet sie somit an die Idee der Wahrheit. Daraus folgt letztlich eine gewisse Abwertung der Kunst gegenüber dem philosophischen Begriff.

Die Philosophie vermag das, was die Kunst nur mittelbar erscheinen lassen kann (die Idee, die nichts anderes ist, „als der Begriff, die Realität des Begriffs und die Einheit beider"), unmittelbar auf den Begriff zu bringen. Aus der Sicht Hegels ist die Kunst „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes", da der „Gedanke und die Reflexion" nach dem Ende der Antike „die schöne Kunst überflügelt." Die Kunst wird somit zu einer Vorform der Philosophie. Im Hegelschen System der Philosophie des „absoluten Geistes" steht die Ästhetik an unterster Stelle. Bedeutend geworden ist Hegels Philosophie der Kunst insbesondere durch ihre konsequente Historisierung aller Kunststile und -werke. Hegel unterscheidet drei geschichtliche Hauptformen der Kunst: die symbolische, die klassische und die romantische Kunstform. Die symbolische Kunstform, die sich vor allem in der Architektur der alten Ägypter verwirklicht findet, begreift Hegel als bloße „Vorkunst". In ihr sei das Ideal einer vollständigen Durchdringung von Stoff und Form noch nicht erreicht, der Geist sei noch auf der Suche nach seinem angemessenen sinnlichen Ausdruck. In der klassischen Kunstform der griechischen Antike, insbesondere in den Götterskulpturen, sei dieser Ausdruck dagegen erreicht. Idee und Gestalt gehen hier vollständig ineinander auf. In der romantischen Kunstform, die Hegel mit dem Ende der Antike beginnen lässt, komme es zu einem Überschuss der Idee über die Gestalt. Die romantische Kunstform manifestiere sich vor allem in Musik und Malerei.

2.3.7

 

Schopenhauer

Arthur Schopenhauer begreift die Kunst wie Hegel als anschaubare Wahrheit, gibt der Idee der Wahrheit aber eine ganz andere Ausrichtung. In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) greift Schopenhauer die Kantsche Unterscheidung von „Ding an sich" und „Erscheinung" auf. Der Mensch lebt in einer Welt bloßer Erscheinungen, die dem „Satz vom Grund" unterstehen, welcher besagt, dass es für jedes Phänomen einen zureichenden Grund gibt. Diese Welt der bloßen Erscheinungen verbirgt eine eigentliche, an sich seiende Welt, welche Schopenhauer mit dem Willen gleichsetzt. Der Wille fungiert in seinem Denken als zentrales kosmologisches Prinzip.

Die ästhetische Betrachtung der Dinge bleibt auf der Ebene der bloßen Erscheinungen, nimmt die Dinge aber zugleich unabhängig vom „Satz vom Grund" wahr. Die ästhetische Anschauung befreit die Dinge aus den kategorialen Gefügen von Raum, Zeit und Kausalität und behandelt sie als bloße Ideen. In der Kunst lässt der Mensch seinen Willen, der ihn ansonsten permanent gefangen hält, hinter sich, der Kunstgenuss entlastet ihn vom Druck permanenter Bedürfnisbefriedigung. Eine Sonderstellung kommt der Musik zu, die von Schopenhauer nicht als Abbild der Ideen, sondern als direkter Ausdruck des Willens in der phänomenalen Welt verstanden wird.

2.3.8

 

Nietzsche

Friedrich Nietzsche pflichtet Schopenhauer darin bei, dass das vom Willen bestimmte Leben tragisch sei und dass nur die Kunst die Existenz erträglich mache: „nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt". Wie von Platon wird Kunst auch von Nietzsche als „Nachahmung der Nachahmung" oder „Schein des Scheins" bestimmt, in dieser doppelt uneigentlichen Rolle jedoch nicht abgewertet, sondern gegenüber den Vorstellungen einer substantiellen Welt und einer überweltlichen Präsenz aufgewertet. In einem „umgekehrten Platonismus" wird der ästhetische Schein als das Uneigentliche gerade in seiner Uneigentlichkeit jeder eigentlichen Wirklichkeit vorgezogen. Nietzsches Philosophie wirkte besonders auf den Ästhetizismus der Jahrhundertwende, der die Ästhetisierung des individuellen Lebens bewusst zum Programm erklärt, aber zugleich zeigt, wie jeder Versuch, das Leben als Kunstwerk zu gestalten, scheitern muss.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird die philosophische Ästhetik als Disziplin eher vernachlässigt. Die naturwissenschaftsgläubige Philosophie des Positivismus erhob gegenüber der Kunst und der philosophischen Ästhetik den Verdacht des Irrationalismus. Erst im Zuge eines zunehmenden Ungenügens der Philosophie an einem naturwissenschaftlich verkürzten Erfahrungsbegriff in der Philosophie des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Renaissance der philosophischen Ästhetik.

2.4

 

20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert wurden viele Motive der von Platon bis Nietzsche reichenden Tradition philosophischer Ästhetik wieder aufgegriffen und durchdrangen verschiedenste philosophische Disziplinen wie die Erkenntnistheorie, die Ethik, die Anthropologie und die Sozialphilosophie. Die Aktualität des Ästhetischen im 20. Jahrhundert verdankt sich vor allem ihrer rationalitätskritischen Dimension. Autoren wie John Dewey, Martin Heidegger und Theodor W. Adorno besannen sich auf die Ästhetik als auf ein Einspruchspotential gegen die einseitig logozentrisch ausgerichtete Philosophie des Abendlandes.

2.4.1

 

Bergson und Croce

Der Lebensphilosoph Henri Bergson definiert die Ästhetik zu Beginn des Jahrhunderts in Abgrenzung zur Naturwissenschaft. Für Bergson bestehen die spezifischen Chancen des Kunstwerks vor allem in seiner Möglichkeit, Realität mit Hilfe der Intuition direkt und tiefer erfassen zu können als es durch die abstrakte Begrifflichkeit der Wissenschaften möglich wäre. Auch der italienische Philosoph Benedetto Croce begründet seine Ästhetik auf dem Gedanken künstlerischer Intuition. Er begreift Intuition als Modell einer Evidenz, eines plötzlichen Erkennens des Wesens der Dinge, auf die sich die ästhetische Formgebung zu gründen habe. Ein Kunstwerk ist dementsprechend der Ausdruck einer solchen Intuition in materieller Form.

2.4.2

 

Dewey

Der Pädagoge und Philosoph John Dewey, einer der bedeutendsten Vertreter des amerikanischen Pragmatismus, thematisiert Kunst als Steigerungsmodus von alltäglicher Erfahrung. Erfahrung konstituiert sich für ihn als „vollständige gegenseitige Durchdringung des Ich und der Welt der Dinge und Ereignisse". Diese Durchdringung werde von ästhetischer Erfahrung potenziert und reflexiv eingeholt. Dewey vertritt in seinem ästhetischen Hauptwerk Kunst als Erfahrung (1934) die Ansicht, dass die alltägliche menschliche Erfahrung heterogen und fragmentarisch bleibt. Demgegenüber ist die ästhetische Erfahrung eine, die harmonisch sich selbst genügt; sie ist vollendet und in sich geschlossen. Von der Philosophie unterscheidet sich die Kunst dadurch, dass sie die Welt nicht erklärt, sondern Selbstverständlichkeiten abbaut: „Von der Philosophie sagt man, sie beginne beim Wunder und ende im Verstehen. Kunst nimmt ihren Ausgang beim Verstandenen und endet im Wunder".

2.4.3

 

Heidegger und Sartre

Im Anschluss an Schelling und Hegel definiert Martin Heidegger in seiner Arbeit über den Ursprung des Kunstwerks (1936) das „Wesen der Kunst als das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden", die dem Philosophen diskursiv nicht zugänglich ist. Diese „Wahrheit des Seienden", die das Kunstwerk „entbirgt" (bewusst macht), liegt in der vorgängigen Erschlossenheit des Seins, im Sinnhorizont, in dem uns die Welt immer schon gegeben ist, der sich uns als Horizont aber notwendig entzieht. Das Kunstwerk macht diesen ansonsten abgedunkelten Sinnhorizont sichtbar, ohne ihn allerdings vollständig aufzuklären und diskursiv abzuarbeiten; es „lichtet" das Sein vielmehr in seiner Dunkelheit, es erhebt die „Erde" (für Heidegger ein Symbol des sich jeglicher Diskursivität entziehenden Vorbewussten) zur „Welt" (dem Inbegriff des diskursiv „Gelichteten"): „Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. […] Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk lässt die Erde eine Erde sein". Im Kunstwerk und nur im Kunstwerk offenbart sich Wahrheit als nicht stillzustellendes Wechselspiel von Diskursivität und Nichtdiskursivem.

Der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre entwickelte im Rahmen seiner existentialistischen Philosophie eine Ästhetik, die das Kunstwerk als Ausdruck der freien Wahl des Individuums dennoch in den Kontext einer gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers stellt. Die im Kunstwerk verarbeitete Verzweiflung stellt für Sartre eine unabdingbare Voraussetzung dar, den Weg zur echten Freiheit zu eröffnen.

2.4.4

 

Benjamin

Walter Benjamin verstand sich selbst zeit seines Lebens weniger als Philosoph, denn als Kritiker. In seinem Frühwerk entwickelt er seine ästhetische Kritik zunächst in Auseinandersetzung mit literarischen Werken, um sie nach und nach auch auf andere Kunstformen wie Film, Photographie und Architektur sowie schließlich auf alle anderen kulturellen Manifestationen zu übertragen. Für Benjamin richtet sich das Interesse des Kritikers nicht einfach auf das in Kunstwerken „Gemeinte", sondern auf ihre jeweilige „Art des Meinens", in der sich ein prädikativ nicht einholbarer Überschuss an Bedeutung ausdrücke. Die „Art des Meinens" oder das „Wie" der Darstellung wird vom Kritiker gegen die im Kunstwerk dargestellten Gehalte gekehrt. Im „Wie" der Darstellung überschreitet sich das im Werk Dargestellte selbst. Jedes Kunstwerk leistet aus Benjamins Sicht eine Kritik an der Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Es gibt vor, Natur nachzuahmen, und kritisiert gleichzeitig den von ihm selbst erzeugten Schein der Natürlichkeit. Das Spezifische des künstlerischen Werks liegt für Benjamin in seiner darstellerischen Selbstüberschreitung. Im Kontext des unvollendet gebliebenen Passagen-Werks (1980 erstmals publiziert) macht Benjamin die welterschließende Kraft von Kunst und Kunstkritik für eine kritische Kulturwissenschaft und Historiographie fruchtbar. Er reagiert mit diesem Versuch auf eine Krise der historistischen Geschichtsschreibung und Kulturtheorie seiner Zeit.

Die Philosophie der Kunst in Benjamins Spätwerk wird von zwei Hauptmotiven dominiert: vom avantgardistischen Anspruch einer Überführung von Kunst in Lebenspraxis und von der Beschreibung des historischen Verfalls der autonomen, von der Lebenspraxis abgehobenen Kunst in einer Zeit, deren gewandelter Erfahrungshorizont die kontemplative Rezeption autonomer Kunst erschwert. Diese beiden Motive kulminieren in Benjamins am stärksten rezipierter kunstphilosophischer Arbeit, dem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935). In engem Zusammenhang mit den Veränderungen der wahrgenommenen Welt und den daraus resultierenden Veränderungen der subjektiven Wahrnehmungsvermögen in der Moderne, stehen für Benjamin Wandlungen im Spektrum künstlerischer Gattungen. Während traditionelle Gattungen wie Lyrik und Tafelbild im Schwinden begriffen sind, entstehen neue, dem gewandelten gesellschaftlichen Erfahrungshorizont angepasste Kunstformen wie Film und Photographie. Der Film beerbt aus der Sicht Benjamins den kritischen Anspruch der Avantgardebewegungen (Futurismus, Dadaismus und Surrealismus), Kunst in Lebenspraxis überführen zu wollen.

Die Reproduktionsmedien Film und Photographie bilden das fortgeschrittenste Stadium in einem geschichtlichen Prozess ästhetischer Rationalisierung, einer Entzauberung der Kunst, die Benjamin als „Zertrümmerung der Aura" beschreibt. Die autonome, bürgerliche Kunst begreift er als eine Form „kultischer" bzw. ideologischer Kunst, in der sich das Bürgertum selbst feiert und inszeniert. Die Kunstwerke des bürgerlichen Zeitalters sind in ein „sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit" gehüllt, der den Rezipienten auf Distanz hält und zu einer kontemplativen Haltung gegenüber dem Werk nötigt. Der Inbegriff dieser Distanz ist die „Aura", die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag". Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es möglich, Kunstwerke beliebig technisch zu vervielfältigen. Dieser Vervielfältigungsprozess zerstört die Aura und ist unabdingbar, weil der Mensch in der modernen Großstadt keiner kontemplativen Wahrnehmung mehr fähig sei. Das Hier und Jetzt des autonomen Kunstwerks weicht einem Überall und Immer der Reproduktion. Von dieser These Benjamins zeigen sich eine Reihe postmoderner Kulturphilosophen wie Paul Virilio, Jean Baudrillard und Jacques Derrida stark beeinflusst.

2.4.5

 

Adorno

Bei Theodor W. Adorno, dem bedeutendsten Vertreter der so genannten Kritischen Theorie der Gesellschaft, wird die philosophische Ästhetik dezidiert zu einem Organon der Rationalitätskritik. In seiner posthum erschienenen Ästhetischen Theorie (1970) begreift Adorno die Rationalität des Ästhetischen als Korrektiv zur instrumentalistisch verkürzten Vernunft der Neuzeit. Im Gegensatz zum verfügenden Begriff der Wissenschaften und der Philosophie, der die begriffene Sache zu beherrschen trachtet und sie zu einem bloßen Exemplar degradiert, vollzieht die Kunst eine Mimesis ans Nichtidentische, an das je Besondere und Individuelle ihres Gegenstands. Adorno unterstellt dem Kunstwerk eine „immanente Dialektik von Mimesis und Rationalität". Als „welterschließendes" ist das Kunstwerk der begrifflichen Rationalität analog, als „mimetisch welterschließendes" ist es aber gleichzeitig begriffsfeindlich: „Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis und insofern […] als ,rational‘."

Andererseits ergänzt Kunst „Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene und beeinträchtigt dadurch wiederum den Erkenntnischarakter, ihre Eindeutigkeit." Adorno geht von einer Inkommensurabilität der „instrumentellen Rationalität" an ihr Anderes, an das „Nichtidentische", aus. Nach dem Scheitern der philosophischen Versuche, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen", bleibt der Philosophie nur noch der Umweg über die Kunst, um ihren Anspruch auf den Zugang zum Jenseits der Begriffe einzulösen. Dem „Nichtidentischen" wird dabei zugleich die Rolle eines geschichtsphilosophischen Korrektivs der Widersprüche der Moderne zugedacht.

Adorno thematisiert Kunst in ihrem Doppelcharakter als Ausdruck der Gesellschaft und als gegenüber der Gesellschaft transzendent. Kunst ist für Adorno immer mehr als ein bloßes Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, sie wird von ihm definiert als „gesellschaftliche Antithesis der Gesellschaft". Sie steht für eine Rationalität eigener Art, die sich nicht restlos auf die Rationalität der gesellschaftlichen Praxis zurückführen lässt. In diesem Punkt unterscheidet sich Adorno von der Widerspiegelungsästhetik des orthodoxen Marxismus, wie sie etwa von Georg Lukács vertreten wird. Für Lukács, der im Gegensatz zu Adorno die abstrakte künstlerische Moderne ablehnt und am Realismus des 19. Jahrhunderts festhalten möchte, hat das Kunstwerk den Zweck, die „Totalität" sozialer und ökonomischer Gegebenheiten durchdringend abzubilden und so Voraussetzungen ihrer Überwindung bloßzulegen. Ihren angemessenen Ausdruck findet dieses Ziel für Lukács im sozialistischen Realismus, der die Kunst dem Projekt einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft unterstellt. Adorno richtet sich demgegenüber massiv gegen jede Form der Indienstnahme von Kunst. Erst als gänzlich autonome, nur ihren eigenen Strukturgesetzen folgende, kann Kunst Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen, die sich in einem viel grundsätzlicheren Sinne kritisch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit beziehen lassen.

2.4.6

 

Semiotische und informationstheoretische Ästhetik

Im Anschluss an die von Charles Sanders Peirce entwickelte Semiotik untersucht Charles W. Morris das Ästhetische als Zeichenrelation und bemüht sich, das Spezifische des ästhetischen Zeichens zu bestimmen. Morris unterscheidet zwei Hauptklassen von Zeichen: nichtikonische Zeichen, die dem von ihnen Bezeichneten nicht ähnlich sind, und ikonische Zeichen, die dem Bezeichneten ähneln, d. h. mit ihm bestimmte Eigenschaften teilen. Kunstwerke begreift Morris als ikonische Zeichen, die einen Wert zum Gegenstand haben. Als Wert gilt ihm jeder Sachverhalt, der in einem Verhältnis zu einem bestimmten Interesse oder einer bestimmten Bedürfnislage steht.

Auch in der von Max Bense begründeten informationstheoretischen Ästhetik steht das Verhältnis von Wert und Zeichen im Mittelpunkt. Bense bemüht sich um die Einbeziehung kybernetischer, mathematischer und informationstheoretischer Denkfiguren in die Ästhetik, welche er als objektive Wissenschaft zu reformulieren sucht. Er begreift Ästhetik als Lehre von den mathematischen Grundlagen künstlerischer Schöpfungsprozesse. Ästhetische Zeichen werden darüber hinaus als mit mathematischen Methoden beschreibbare Träger von Informationen analysiert.

2.4.7

 

Sprachanalytische Ästhetik

Die sprachanalytische Ästhetik formierte sich in den angelsächsischen Ländern zu Beginn der fünfziger Jahre als Versuch, die Frage nach dem Wesen der Kunst an die Frage nach den Geltungsbedingungen ästhetischer Urteile zurückzubinden. Die wichtigsten Vertreter der analytischen Ästhetik, Nelson Goodman und Arthur C. Danto (*1924), gingen schon bald über die sprachliche Analyse ästhetischer Urteile hinaus; sie interpretierten nicht mehr nur noch unsere sprachlichen Äußerungen über Kunstwerke, sondern Kunstwerke selbst als sprachliche Äußerungen. In seinen Sprachen der Kunst (1968) bestimmt Goodman den ästhetischen Zeichengebrauch als eine bestimmte Form der Abweichung von einem (hypothetischen) idealen Zeichengebrauch, der durch maximale „Notationalität" charakterisiert ist. Die Gestalt des idealen Zeichens ist für Goodman „disjunkt" und „artikuliert", seine Semantik bestimmt er als „eindeutig", „disjunkt" und „differenziert". Ästhetisch verwendete Zeichen weichen von diesem idealen Zeichencharakter ab. Sie bezeichnen weniger eindeutig, gewinnen dafür aber Dichte und Fülle.

Diese noch recht vage Annäherung an das Ästhetische wird von Danto weitergeführt und präzisiert. Dantos kunstphilosophische Kernthese lautet, dass Kunstwerke „zusätzlich zu dem, dass sie über irgendetwas sind, auch darüber sind, wie sie über dieses Etwas sind, dass sie sozusagen Inhalte erster und zweiter Ordnung haben." Die Trennung dieser beiden Klassen von Inhalten ist nur heuristisch möglich. Metapher, Ausdruck und Stil, die drei Leitkategorien der Dantoschen Ästhetik, zeichnen sich durch die Tatsache aus, dass die „Inhalte erster und zweiter Ordnung" in ihnen in komplizierter Weise miteinander vermittelt sind. Im Stil verdoppelt sich die Darstellungsleistung des Kunstwerks. Diese interne Verdoppelung führt zu einer Steigerung des semantischen Gehalts. Das Kunstwerk verkörpert über seinen „einfachen" Gehalt hinaus immer auch noch eine Weise, sich zu diesem Gehalt zu verhalten, es „präsentiert die Form, in der es seinen Inhalt präsentiert."

2.4.8

 

Hermeneutik und Rezeptionsästhetik

Ausgehend von der frühromantischen Ästhetik und der Philosophie Martin Heideggers bemühte sich Hans-Georg Gadamer um eine Vermittlung von Hermeneutik und Ästhetik. In seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) begreift Gadamer das Verhältnis des Kunstwerks zum Rezipienten als ein dialogisches: „Das Kunstwerk hat […] sein eigentliches Dasein darin, dass es zur Erfahrung wird, die den Erfahrenden verwandelt." In der Kunsterfahrung verschmelzen im Idealfall die Horizonte des Kunstwerks und des Rezipienten, „so dass das eine in das andere übergeht und das Kunstwerk mit seiner Wirkungsgeschichte, das geschichtlich Überlieferte mit der Gegenwart seines Verstandenwerdens eins ist."

Gadamers hermeneutische Ästhetik wurde von Hans Robert Jauß aufgegriffen und zu einer Rezeptionsästhetik erweitert. Für diese ist entscheidend, dass jedes Kunstwerk auf einen bestimmten geschichtlichen Erwartungshorizont reagiert und diesen kritisch transformiert. Die Interpretation von Kunstwerken muss insofern immer auch die geschichtlichen Erwartungshorizonte rekonstruieren, vor deren Hintergrund ein Werk erscheint. „Die Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk, zwischen dem schon Vertrauten der bisherigen ästhetischen Erfahrung und dem mit der Aufnahme des neuen Werkes geforderten ,Horizontwandel‘, bestimmt rezeptionsästhetisch den Kunstcharakter eines literarischen Werks."


Verfasst von:
Andreas Hetzel